DIDIER HINZ REISEFOTOGRAFIE

Auf den Spuren des kolonialen Indochinas
dh / 27. May 2016

Auf den Spuren des kolonialen Indochinas

Das Erbe der französischen Herrschaft in Südostasien

Im Frühjahr dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit, die Länder Kambodscha und Vietnam zu bereisen. Zusammen mit Laos, das ich vor ein paar Jahren besucht habe, bilden diese drei Staaten das Gebilde, das man "Indochina" nannte und das seit Mitte des 19. Jahrhunderts und fast ein ganzes Jahrhundert lang zum französischen Kolonialreich gehörte. Es war insgesamt eine interessante und aufschlussreiche Reise, deren Erlebniswert ich in meinen Fotos festzuhalten versucht habe. Doch um das Gesehene und Erlebte besser einordnen zu können, lohnt es, einen Blick in die Kolonialgeschichte dieser Region zu werfen - eine Geschichte übrigens, an die sich Kolonialnostalgiker nur ungern erinnern wollen. 
Grünanlage in der Innenstadt von Saigon
Sogar unbedarften Touristen dürfte das koloniale Erbe Südostasiens nicht ganz verborgen bleiben: Das augenfälligste Zeichen mögen die christlichen Kirchen sein, die man in großer Anzahl vor allem in Vietnam sieht. Wer einen Sinn für Architektur hat, dem dürften darüber hinaus viele Bauwerke auffallen, die entsprechenen Konstruktionen in Frankreich verblüffend ähnlich sind: stählerne Brücken über den Mekong zum Beispiel, die vom Erbauer des Eiffelturms selbst entworfen sein könnten. Die ockerfarbenen Schulgebäude ähneln in der ganzen Region einander, ihr funktionaler Stil ist typisch für die französische Behördenarchitektur der Zwischen- und Nachkriegszeit. Herrschaftliche Villen mit repräsentativer Außentreppe, Bogenfassade, Balustraden und hohen Raumdecken, wie man sie zum Beispiel aus französischen Kurorten kennt, beherbergen heute Museen, Behörden, Hotels oder Restaurants. Ja ganze Straßenzüge, die von schattenspendenden Baumreihen gesäumt sind, findet man genauso in der südfranzösischen Provinz. Ihre alten Namen erinnern an Persönlichkeiten der damaligen Kolonialverwaltung oder verweisen auf "ruhmreiche" Ereignisse der französischen Geschichte. Nicht zu vergessen die vielen Markthallen - damals wie heute der Mittelpunkt des täglichen Lebens in Indochina.  
Die französische Brücke von Hue (Zentral-Vietnam)
Sucht man nach charakteristischen Beispielen für solche Orte, wird man vor allem in der vietnamesischen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt fündig, dem früheren Saïgon. Dies ist kein Zufall, sondern hat historische Gründe: Die Region am Delta des Mekong-Flusses im Süden des Kaiserreichs Viêt Nam wurde als erste (im Jahre 1863) militärisch erobert und zur französischen "Kolonie Cochinchina" erklärt. Außerdem stand sie am längsten unter direktem französischem Einfluss und versammelte den Großteil der christlichen Bevölkerung, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine ähnlich große wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung hatte in Indochina nur noch die Gegend zwischen Hanoi und Haiphong am Delta des Roten Flusses im Norden Vietnams, den die Franzosen zwanzig Jahre später eroberten und zum "Protektorat Tongking" (franz. Tonkin) machten. Zur gleichen Zeit wurde der verbleibende, zentrale Landesteil des Kaiserreichs mit der Hauptstadt Hué zum "Protektorat Annam" (das war der chinesische Name für das Kaiserreich). Der Name "Le Tonkin", den nicht wenige vietnamesische Restaurants im heutigen Frankreich tragen, ist eine nostalgische Referenz auf das alte Protektorat.  
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Reisfeld in Zentralvietnam
 
 

Die Anfänge der Kolonisation

 
Die ersten Franzosen, die sich bereits im 17. Jahrhundert vor allem in der Nähe der großen Flüsse niederließen, am Roten Fluss im Norden und am Mekong-Delta im Süden, waren katholische Missionare. Zu jener Zeit blickte Vietnam auf eine zweitausendjährige Tradition zurück, mit buddhistisch-konfuzianischem Weltbild und unter starkem chinesischen Einfluss. Der Kaiser war das unangefochtene Oberhaupt der Gesellschaft. Die bäuerliche Gesellschaft war in Dorfgemeinschaften organisiert, die die kommunalen Anbauflächen gemeinsam bewirtschafteten und die Ernten untereinander aufteilten.
 
Eine der ersten Maßnahmen der Kolonialverwaltung war es, das traditionelle Rechtssystem durch eines nach französischem Vorbild zu ersetzen: Einführung eines Personenregisters, individuelle Besteuerung, polizeiliche Kontrolle, weitgehender Ersatz der gemeinschaftlichen Verwaltung kommunaler Anbauflächen durch private, käufliche Besitzrechte. Dies war die Voraussetzung für den Nachzug von französischen Siedlern (angelehnt an den Begriff der Kolonie: "colons" genannt), die durch Landerwerb schnell zu Großgrundbesitzern wurden. Viele verpachteten ihr erworbenes Land an landlose Bauern, die das neue Recht ja in großer Zahl freisetzte. Während das traditionelle kommunale Landaufteilungssystem drastisch schrumpfte, wurde der Großteil des Bodens von immer weniger Großgrundbesitzern kontrolliert, die es auf ihren Reisfeldern, ihren neu angelegten Gummi- und Pfefferplantagen schnell zu Reichtum brachten. Zu diesen zählten übrigens auch einheimische Eliten, darunter viele, zum Teil frisch getaufte Katholiken. Diese Schicht von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten profitierte von der Kolonialherrschaft und zeigte sich ihr gegenüber deshalb loyal. Auf der anderen Seite kamen die Bauern durch das Pachtsystem bei Ernteausfällen häufig unter finanziellen Druck und mussten bei der chinesischen Minderheit oder bei indischen Einwanderern Kleinkredite aufnehmen, was ihre Abhängigkeit nur noch verschärfte.  
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Eine Kautschuk-Plantage östlich von Banlung (Kamboscha)
Es wundert nicht, dass die indigene Bevölkerung die systematische Zerstörung ihrer althergebrachten Ordnung als schweren Verlust empfanden und sich zur Wehr setzten. Es entstand früh eine Guerillabewegung, die sich aus den Dorfgemeinschaften rekrutierte und unter den Mandarinen (den traditionellen Staatsbeamten) Unterstützung fand. Ihre Anschläge richteten sich vor allem gegen die zum Christentum übergetretenen Landsleute. Reflexartig schickte Frankreich Truppen in diese Gebiete, deren Auftrag es war, die Aufstände niederzuschlagen. Diese Strafmaßnahmen wurden zynischerweise damit gerechtfertigt, dass man die bedrohten christlichen Minderheiten schützen müsse. Nicht anders als heute übrigens, wenn die Westmächte ihre Interventionen etwa in Afghanistan, im Irak oder in Syrien gerne mit dem Schutz von Frauen-/Menschenrechten oder mit einem Demokratie-Defizit legitimieren. Dass es dabei stets um die Durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen geht, hinterfragte in den Mutterländern niemand: weder damals, noch heute.
 
Folgerichtig nannte man die eroberten Gebiete verharmlosend "Protektorate", also "Schutzgebiete". Der Unterschied zu einer "Kolonie" bestand lediglich darin, dass man in den Kolonien die herrschenden Eliten kurzerhand entmachtete und das Land gänzlich einer kolonialen Verwaltung unterstellte, während die einheimischen Regenten in den Protektoraten formell auf ihren Posten bleiben durften, zumindest solange sie den Schutzherren wohlgesonnen waren. Ein Teil der vorhandenen Verwaltungsstrukturen konnte so übernommen werden, was für die Schutzmacht natürlich von Vorteil war. Auch konnte auf diese Weise die indigene Bevölkerung leichter besänftigt werden. Im Ergebnis liefen beide Systeme aber auf dasselbe hinaus: Das Sagen hatten die neuen Herren, die die natürlichen Ressourcen des Landes ausbeuteten und die Erträge für sich beanspruchten. Das war das Merkmal jedes Kolonialismus, nicht nur des französischen, auch des britischen, deutschen, spanischen, portugiesischen, holländischen... Die Liste ließe sich fortsetzen. In Indochina wurde übrigens nur Cochinchina als "Kolonie" verwaltet, alle anderen Gebiete waren "Protektorate".
 
Zum Wesen der französischen Besatzung in Indochina muss man wissen, dass dort niemals mehr als 40.000 Franzosen lebten - im Vergleich zu einer Gesamtbevölkerung von geschätzten 22 Mio. eine überraschend kleine Zahl. Diese Tatsache belegt, dass Indochina keine Siedlungskolonie war wie etwa Algerien, sondern lediglich eine von Frankreich verwaltete - und ausgebeutete - Wirtschaftszone! Die Hälfte der ansässigen Franzosen waren Angehörige des Militärs, der Rest bestand aus Verwaltungsbeamten und Siedlern. Hinzu kamen etwa 600 katholische Missionare.  
Altes Haus in der Altstadt von Hoi An, Zentralvietnam
Diese Missionare waren es auch, die die in Vietnam heute verwendete Lautschrift entwickelten. Grund dafür war die Tatsache, dass die damals übliche, ans Chinesische angelehnte Schrift für die Neuankömmlinge schwer zu erlernen war und die tonale Besonderheit des Vietnamesischen (bis zu sechs verschiedene Tonlagen bestimmen die Bedeutung eines Wortes) aus der traditionellen Schrift nicht abzuleiten war. So nutzten die Missionare das ihnen vertraute lateinische Alphabet, ergänzten es mit einigen Vokalen und einem Satz von Sonderzeichen, um Bedeutung und Aussprache eindeutig notieren zu können. Ein anderer Grund war freilich, dass die neue Schrift der indigenen Bevölkerung den Zugang zum Französischen erleichtern sollte. Die Verdrängung der traditionellen Schrift vollzog sich weitgehend gegen den Widerstand der Bevölkerung.  
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Die Basilika Notre-Dame-De-Saigon
Die Missionierungsarbeit der Priester war so erfolgreich, dass es im Jahre 1930 bereits über eine Million katholische Vietnamesen gab. Von dieser Entwicklung zeugen die zahlreichen christlichen Kirchen, die heute noch rund einem Zehntel der Bevölkerung ein Ort der Begegnung und der Andacht sind. Die prominenteste unter ihnen ist die 1880 erbaute Basilika "Notre-Dame de Saïgon" in Ho-Chi-Minh-Stadt. Jeder Vietnam-Tourist besucht sie. Sie steht mitten im alten Zentrum und sollte dem Volk die kulturelle Größe Frankreichs vor Augen führen. Auf dem Vorplatz steht eine weniger auffällige, aber von asiatischen Touristen dennoch viel fotografierte Marienstatue aus weißem Granit, sie wurde 1960 erst eingeweiht.
 
An dieser Basilika beginnt die Don Khoi Street (′Straße des Generalaufstands′), damals wie heute die bekannteste Flaniermeile im Zentrum Saigons. Sie ist mehrere Hundert Meter lang und führt auf geradem Wege zum Ufer des Saigon-Flusses. Die "Rue Catinat", wie sie vor hundert Jahren hieß und von den Franzosen heute noch gelegentlich so genannt wird, war die Adresse vieler repräsentativer Gebäude und berühmter Établissements. Der Name verweist übrigens auf die Korvette, auf der die Franzosen 1859 in Cochinchina militärisch eingriffen; deren Name wiederum ehrt den Adelsherrn und Feldmarschall Nicolas de Catinat, einen Zeitgenossen Ludwigs des XIV.
 
Einen Steinwurf von der Basilika entfernt steht das alte, 1891 erbaute Zentrale Postamt, dessen "koloniale" Architektur ein eigenartiger Mix aus europäischem Neoklassizismus und asiatischen Stilelementen ist. Immerhin soll das Stahlgewölbe im Innern, das heute ein übergroßes Bildnis Ho Chi Minhs umrahmt, vom besagten Gustave Eiffel entworfen worden sein.  
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Die Fassade des Hauptpostamts von Saigon, Vietnam
Flaniert man auf dieser Straße in Richtung Fluss, kommt man auf halber Strecke auf einen größeren Platz, an dem gleich mehrere historische Gebäude stehen. Am auffälligsten ist das 1900 erbaute, dem Pariser "Petit Palais" nachempfundene Städtische Theater, heute wird es als Opernhaus bezeichnet. 
Das alte Theater von Saigon, Vietnam
Neben dem Theater steht das 1880 erbaute "Continental Palace", ein Luxushotel, das von Anfang an und bis in die 70er Jahre ein Treffpunkt der gesellschaftlichen Eliten war. Das Hotel heißt heute "Hotel Continental Saigon". In dem Café im Erdgeschoss mit seiner einladenden Terrasse sitzen heute nur noch ein paar Touristen. 
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Das koloniale "Hotel Continental Saigon", Vietnam
 
In der französischen Heimat waren die politischen Eliten über die Frage, welchen Stellenwert man der Kolonisation beimessen solle, zunächst gespalten. Nicht etwa aus moralischen Erwägungen, sondern aus Kosten-Nutzen-Überlegungen. Einerseits stagnierte die einheimische Wirtschaft, und die industrielle Produktion hatte handfeste Absatzprobleme, die man durch die Eroberung neuen Lebensraums zu lösen gedachte. Andererseits tobte der deutsch-französische Krieg von 1870, an dessen Ende sich Frankreich um wichtige Provinzen im Osten (Elsaß-Lothringen) beraubt sah. Weil die Aufstände in Indochina immer mehr Mittel forderten, ohne dass entsprechende Gewinne in die Staatskasse zurückflossen, waren viele der Meinung, man solle der Rückeroberung der verlorenen Provinzen den Vorrang geben. Doch am Ende setzte sich die Lobby der "Kolonialisten" durch, die gleichzeitig die Ideologie einer überlegenen europäischen Zivilisation salonfähig machte, mit der man fortan rechtfertigte, die neuen Schutzbefohlenen "zivilisieren" zu müssen. Die Eroberungsexpeditionen der Franzosen in Indochina wurden wesentlich von eigens zu diesem Zweck aufgestellten indigenen Schützenregimenten getragen, deren Kontigente (die sog. "Tirailleure") die Militärverwaltung in der lokalen Bevölkerung rekrutierte.  
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Tirailleur, Kaiser und Gottheiten: Denkmal in Phnom Penh
 
Um die Wirtschaft in den besetzten Gebieten voranzutreiben, wird nach und nach eine effiziente Verwaltung nach französischem Vorbild aufgebaut und die Infrastruktur modernisiert: Es entstehen asphaltierte Straßen, Brücken, Schulen, Krankenstationen - und Märkte. Sie werden wie im Mutterland in funktionellen, aber für die damalige Zeit architektonisch sehr modernen Gebäuden eingerichtet. Viele Märkte wurden inzwischen renoviert und sind heute wieder in vollem Umfang in Betrieb.  
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Der Cho Ben Thanh Markt in Saigon (Vietnam)
Den 1914 erbauten Cho Ben Thanh-Markt in Ho-Chi-Minh-Stadt erkennt man an seinem hochragenden Uhrturm. Die in den 1930er Jahren im Jugendstil erbaute Halle des Phsar Thmey-Marktes in Phnom Penh in Kambodscha ist noch größer und schöner. Auf allen südostasiatischen Märkten beeindrucken die bunten Gemüse- und Obstauslagen der Händler. Die Fleisch- und Fischstände wirken mangels Kühlung und europäischen Hygienevorschriften dagegen etwas archaisch. Kleidung und Stoffe aller Art fehlen auf keinem dieser Märkte: Vieles stammt aus China und ist preislich konkurrenzlos.  
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Eingang zum Zentralmarkt von Phnom Penh
Typisch für diese Märkte sind auch ihre Beköstigungsbereiche: Um sie zu finden, braucht man nur seiner Nase zu folgen! Um die Mittagszeit ist kaum ein Durchkommen, an vielen kleinen Ständen wird ununterbrochen gedämpft, gebraten und gegrillt: Reis, Gemüse, Tintenfisch, Hähnchenspieße sowie jede Menge unbekannterer Köstlichkeiten. Das meiste mutet sehr appetitlich an und lädt viele Leute dazu ein, sich nach ihrem Einkauf auf eine kleine Holzbank zu setzen und einen Imbiss zu sich zu nehmen. Es scheint so, als würde die französische Tradition des "déjeuner à midi" in Bistrots und Restaurants hier fortleben... 
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Ess-Stand auf dem Zentralmarkt von Phnom Penh
Am 4. April 1914 wird in der Nähe von Saigon die bekannte Schriftstellerin und Theaterfrau Marguerite Duras als jüngste Tochter eines französischen Lehrerehepaares geboren.
 
 

Die Unabhängigskeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg

 
Neben den Infrastrukturmaßnahmen bauen die Franzosen auch ihren Sicherheitsapparat aus. Bereits 1886 werden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die sog. "Indigenen Garden" gegründet: über die verschiedenen Gebiete verteilte einheimische Milizen, die zusammen gut 20.000 Mann stellen. Sie sind es, die im Ersten Weltkrieg die öffentliche Ordnung sicherstellen, nachdem ein Teil der Kolonialtruppen nach Frankreich zurückbeordert wird, um an der deutschen Front zu kämpfen.
 
Weil der Fronteinsatz im "Großen Krieg" zu einem akuten Arbeitskräftemangel in den Munitionsfabriken führt, werden rund 50.000 tonkinesische Arbeiter nach Frankreich geholt. Zusätzlich werden über 40.000 Tirailleure mobilisiert und zur Verstärkung der französischen Truppen an die Front geschickt. Während die meisten von ihnen in den Nachschublinien eingesetzt werden, müssen einige jedoch in die Schützengräben. Mehr als tausend von ihnen lassen dort ihr Leben - in einem Krieg, den sie weder verstehen, noch zu verantworten haben. Nach dem Krieg entscheidet sich eine kleine Minderheit von Vietnamesen, in Frankreich zu bleiben - es ist die Keimzelle der heutigen vietnamesichen Community.
 
Die Erfahrung ihres unfreiwilligen Auslandseinsatzes hat sicher einige der Vietnamesen, Laoten und Kambodschanern veranlasst, über ihren Status als koloniale "Schutzbefohlene" nachzudenken... Kein Wunder jedenfalls, dass sich nach dem Krieg auf der Halbinsel nationalistische Tendenzen radikalisieren und sich das Streben nach Unabhängigkeit immer deutlicher artikuliert. Der Kontakt mit den Europäern hat andererseits dazu geführt, dass sich unter den einheimischen Eliten emanzipatorische Ideen (Feminismus, Pazifismus, Selbstbestimmung der Völker) verbreiten und neue Zeitungen sowie Parteien gegründet werden. Gleichzeitig formiert sich eine kommunistisch orientierte Unabhängigkeitsbewegung, die ihren Ursprung in vietnamesichen Emigrantenkreisen in Paris hat. Sie wird in Indochina als patriotisch wahrgenommen, weil sie geeignet erscheint, das Elend der Arbeiter- und Bauernschaft zu beseitigen und sie es versteht, die sowjetische Ideologie mit dem konfuzianischen Weltbild in Einklang zu bringen. Eine wichtige Führungspersönlichkeit des kommunistischen Widerstandes ist ein gewisser Nguyên Sinh Cung, der sich 1924 unter dem Decknamen Nguyên Ái Quôc nach China absetzt und von dort Untergrundstrukturen in seiner vietnamesischen Heimat aufbaut. Besser bekannt ist er unter seinem späteren Pseudonym Hô Chi Minh...
 
Angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Nationalisten (die eine Rückkehr der Monarchie anstreben) und Kommunisten verstärkt die Kolonialmacht abermals ihren Repressionsapparat und baut einen Geheimdienst und eine politische Geheimpolizei auf, die wegen ihres systematischen Einsatzes von Folter über die Grenzen hinweg gefürchtet ist. Zudem wird 1930 die Fremdenlegion um ein neues Regiment erweitert, das ebenfalls zur Abwehr oppositioneller Kräfte eingesetzt wird. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Protektorate Indochinas zu jener Zeit als Polizeistaaten funktionierten.
 
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Das Grand Hotel in Saigon
In den 1920er Jahren blüht trotz der politischen Unsicherheit in der Rue Catinat das mondäne Leben auf. 1925, während der französische Schriftsteller André Malraux über ein Jahr lang im Continental Palace residiert, wird das Luxushotel "Majestic" am Flussufer eröffnet, dessen Inneneinrichtung von Jugendstil nur so strotzt. Das nahegelegene "Saigon Palace" oder "Grand Hotel" (Hausnummer 8) wurde fünf Jahre später gebaut.  
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Fassade des Hotel Majestic in Saigon
Es lohnt sich heute durchaus, einen Blick in das Majestic zu werfen, um die Inneneinrichtung zu bewundern, die originalgetreu wiederhergestellt wurde. Von der "Black Forest" Torte, die wir uns dort gegönnt haben, waren wir allerdings weniger entzückt: Sie war nicht nur im Wortsinn geschmacklos, sondern hatte zudem die seltene Konsistenz von Hightech-Kunststoff. Dafür war der Kaffee exzellent, und der Rahmen tatsächlich wie aus einer anderen Zeit.
 
Ein sehr schönes Beispiel für die Baukunst der 1920er Jahre findet man auch gegenüber des alten Cho Ben Thanh-Marktes: Das Kunstmuseum von Saigon ist in einer dreistöckigen, im Art Déco Stil gestalteten Villa untergebracht. Ein großräumiges Treppenhaus mit schmiedeeisernem Geländer schlängelt sich um den offenen Aufzugsschacht hinauf und führt an Fenstern mit den typischen bunten floralen Mustern des Jugendstils vorbei. Die Kunstexponate in diesem Museum stammen vorwiegend von einheimischen Künstlern. 
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Aufzug im Kunstmuseum Saigon, Vietnam
 
Das Umgebung des Hotel Majestic war zu dieser Zeit fest in der Hand von Korsen, die hier Cabarets, Bars und andere Vergnügungsetablissements betrieben, die vor allem von Militärs besucht wurden. Das berühmteste von ihnen war das "Croix du Sud" (Hausnummer 80), wo leicht bekleidete Tänzerinnen auf der Bühne auftraten. Die wirklichen "Geschäfte" schloss man im Hinterzimmer in kleiner Runde ab: mit schwerreichen chinesischen Geschäftsleuten, einflussreichen VietnamesInnen und hohen Beamten der Kolonialverwaltung. 
Koloniales Flair im Restaurant "Madame Hien" in Hanoi
Ein bestimmtes Accessoire darf in keinem der Hotels, Restaurants und Bars aus dieser Zeit fehlen: Ich meine den großen Paddel-Ventilator, der an der Decke gemächlich seine Runden dreht und für das kühle Lüftchen sorgt, das den Gast die Schwüle der Straße vergessen lässt. So mancher Nostalgiker sucht diese Orte heute auf, um einen Rest jenes "kolonialen Flair" aufzuspüren, der ihm das privilegierte Leben seiner europäischen Vorfahren eine Zeitlang nachempfinden lässt. Ich, der ich im französischen "Protektorat Marokko" aufgewachsen bin und die letzten Jahre der Kolonialzeit miterleben durfte, will mich hier keineswegs ausschließen.
 
In den 1930er Jahren brechen turbulente Zeiten an. Die Weltwirtschaftskrise lässt die Weltmarktpreise für die Exportgüter Kautschuk und Reis abstürzen, was zahlreiche Firmen in die Pleite treibt und die indochinesische Wirtschaft, die bis jetzt kräftig gewachsen war, zusammenbrechen lässt. Die Folge ist eine Welle sozialer Unruhen, die die Kolonialverwaltung nicht in den Griff kriegt. Die Oppositionsparteien, entweder verboten oder von der Geheimpolizei streng überwacht, operieren im Untergrund und nutzen das unruhige Umfeld, um den Aufstand gegen die Besatzungsmacht zu proben. Die von China unterstützten Nationalisten verüben in Tongking Bombenanschläge gegen Polizeistationen und erschießen französische Offiziere im Rahmen einer organisierten Meuterei der vietnamesichen Tirailleure. Fast zeitgleich mobilisiert die kommunistische Partei verarmte Landarbeiter und Tagelöhner in Annam und Cochinchina, um von den Behörden die Lieferung von Reisrationen zu fordern. Etwas später organisiert sie die Verteilung von Reis aus kommunalen Reisanbauflächen unter der armen Landbevölkerung und führt für diese eine Selbstverwaltung ein. Zwei Dutzend solcher Bauernräte ("Sowjets") entstehen binnen eines Jahres. In beiden Fällen ist die Repression erbarmungslos: Die Meuterei wird niedergeschlagen, ihre Anführer werden hingerichtet und viele Aktivisten auf die Strafinsel Poulo Condor verbannt, wo sie in Tierkäfige gesperrt werden. Die Sowjets werden aufgelöst, zehntausend Menschen verhaftet, Tausende umgebracht, die meisten Führer der Kommunistischen Partei hingerichtet, viele Aktivisten auf die Strafinsel verbannt: darunter auch mehrere spätere Führer Nordvietnams. Der spätere Onkel Hô, der selbst übrigens aus dem Norden Annams stammte, wird von der britischen Polizei in Hong Kong geschnappt; später wird ihm aber die Flucht nach China gelingen. Nach diesen Strafmaßnahmen liegen die Strukturen sowohl der Nationalisten als auch der Kommunisten am Boden. Während die einen ins chinesische Exil gehen, bauen die anderen ihre Strukturen im Untergrund aus.
 
1936 erfährt die Wirtschaft wieder eine spürbare Erholung, die allerdings mit einer empfindlichen Teuerungsrate einhergeht und in der vietnamesischen und chinesischen Arbeiterschaft, die über mehrere Jahre Lohneinbußen hinnehmen musste, eine gewaltige Streikwelle auslöst, die bald in einen Flächenbrand mündet. Im selben Jahr gewinnt die linke Volksfront um Léon Blum, der die Repression in den Kolonien offen kritisiert und auf Reformen drängt, die Parlamentswahlen in Frankreich. Die Kolonialverwaltung sieht sich nun gezwungen, dem Druck nachzugeben: Politische Gefangene werden amnestiert, Lohnerhöhungen beschlossen, neue Sozialgesetze erlassen, die Rede- und Versammlungsfreiheit gewährt und Gewerkschaften zugelassen. Politische Parteien werden gegründet, in Cochinchina wird sogar die Kommunistische Partei zugelassen. Zu weiteren Reformen kommt es allerdings nicht, und die Hoffnungen der Unabhängigkeitsbewegung werden enttäuscht: Angesichts steigender Spannungen in Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs möchte die französische Regierung in ihren fernöstlichen Besitzungen kein Risiko eingehen.
 
Mehrzweck-Traktor in Kampot, Kambodscha
Als technische Errungenschaft aus dieser Zeit wäre noch ein skuril anmutendes Landwirtschaftsgerät zu erwähnen, das auf Kambodschas Straßen aber heute noch zirkuliert: der "Einachsschlepper". Hierbei handelt es sich im Grunde genommen um einen halben Traktor: Statt eines Hinterbaus mit Hinterachse und Fahrersitz hat der Schlepper hinterm Motor nur eine robuste Kupplung. An ihr kann fast jede Art von Werkzeug befestigt und vom Motor angetrieben werden. Sie verleiht dem Schlepper seine Vielseitigkeit. Meist sind sie fest mit einem archaischen Radkarren verbunden und werden so als zuverlässiger und preisgünstiger Lastentransporter genutzt. Die Lenkstangen des Schleppers sind lang genug, um dem auf dem Anhänger sitzenden Fahrer alle Steuerfunktionen in die Hand zu geben. Auf dem Feld kann der Schlepper mit entsprechendem Zubehör zum Beispiel als Pflug eingesetzt werden. Das unverwüstliche Gefährt ist eine Entwicklung französischer Ingenieure, die nicht erst mit dem "2CV" bewiesen haben, dass sie Funktionalität mit Einfachheit und Robustheit zu verbinden wissen.
 
Eine andere Reminiszenz aus der Kolonialzeit sind die Kilometersteine, die heute noch wie ihre französischen Vorbilder, die bornes kilométriques, viele Straßen säumen: mit halbrunder roter Haube, auf der in weißer Schrift die Nummer der Fernstraße (damals "Kolonialstraße" genannt) geschrieben steht. Nebenstraßen unterscheiden sich durch eine gelbe Haube mit schwarzer Schrift.
 
 

Der Zweite Weltkrieg: das japanische Intermezzo

 
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs führt Japan einen expansionistischen Feldzug im Pazifikraum und befindet sich mit China im Krieg. Die Japaner verlangen von der Kolonialverwaltung, dass diese den Güter- und Waffennachschub der Nationalchinesen (Kuomintang-Regierung um Chiang Kai-shek) aus Indochina unterbindet. Frankreich geht jedoch auf diese Forderung zunächst nicht ein.
 
Mit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa werden in Annam und Tonking 27.000 Vietnamesen zwangsrekrutiert und zum Kriegsdienst in Frankreich einberufen. Außerdem werden 100.000 Arbeiter in die Metropole geholt, um die französische Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Besetzung Frankreichs durch Nazideutschland (das im Rahmen der "Achsenmächte" mit Japan verbündet ist) zwingt die Vichy-Regierung 1940, auf alle Forderungen der Japaner einzugehen: die Stationierung japanischer Truppen in ganz Indochina sowie die Lieferung wirtschaftlicher Güter.
 
Vor dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes verbietet Frankreich jegliche kommunistische Betätigung, auch in den Kolonien. Dennoch starten die Kommunisten einen Guerilla-Angriff in Cochinchina, den die Fremdenlegion mit Hilfe der Luftwaffe jedoch abwehrt: 8000 Festnahmen, 5000 Tote. Trotz dieser Niederlage behalten die Kommunisten ein fast intaktes Netz von Geheimstrukturen und gründen die Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (kurz: "Viêt Minh"), deren Führer ab jetzt das Pseudonym Hô Chi Minh annimmt.
 
Nach der Befreiung von Paris von den Nazis durch die Amerikaner im August 1944 schmiedet Frankreich um General De Gaulle Pläne für eine Rückeroberung Indochinas und gründet zu diesem Zweck den "Expeditionskorps", eine Kampftruppe von zuerst 20.000 Mann. Die Truppe besteht bemerkenswerterweise nicht vorwiegend aus Franzosen, sondern setzt sich mehrheitlich aus Indochinesen, Nordafrikanern und Fremdenlegionären (darunter viele deutsche Freiwillige) zusammen.
 
Als die Japaner von diesen Verschwörungsplänen erfahren und die Amerikaner im Januar 1945 japanische Stellungen in Indochina bombardieren, fürchten sie einen Einmarsch der Allierten und gehen im März zum Generalangriff über: In einem Gewaltakt massakrieren sie französische Offiziere, besetzen das gesamte Territorium, zerschlagen die Kolonialverwaltung und plündern das Land wirtschaftlich aus. Unter den Franzosen gibt es 15.000 Gefangene, 3000 sterben in den "Todeslagern", die übrigen retten sich über die chinesische Grenze.
 
Ende 1944 zerstören mehrere Taifuns die Reisernten im Norden Indochinas. Weil die Reisreserven von den Japanern beschlagnahmt wurden und der Nachschub aus dem Süden aufgrund der zerstörten Infrastruktur abgeschnitten ist, bricht im Norden eine scheckliche Hungersnot aus, der eine Million Menschen zum Opfer fallen!
 
Der amerikanische Abwurf der Atombombe auf Hiroshima im August 1945 beendet den Pazifikkrieg und zwingt die Japaner zur Kapitulation.
 
Der Viet Minh nutzt das Machtvakuum, um einen Volksaufstand zu organisieren, der als "Augustrevolution" in die Geschichte eingehen wird. Massenweise werden Anhänger von dem Land nach Hanoi gekarrt, um die Straßen der Hauptstadt und die öffentlichen Gebäude zu besetzen. Um dem Volkszorn zu entkommen, müssen Weiße und Mischlinge sich in ihren Häusern verbarrikadieren. In allen Städten des Nordens werden Revolutionskommitees gebildet. Drei Tage später ruft Ho Chi Minh in Hanoi die unabhängige "Demokratische Republik Vietnam" aus. Hô wird Regierungschef und Chef des Außenressorts, das Innenressort übernimmt der Offizier Võ Nguyên Giáp (Giáp wird im Freiheitskampf noch eine wichtige Rolle spielen). Kaiser Bao Dai bietet sich als "Sonderberater" und Botschafter in China an, um die Legitimität der neuen Regierung zu unterstreichen. Dafür wird er von den Franzosen prompt nach Hong Kong ins Exil geschickt. 
 
Im selben Monat besetzen rund 200.000 Soldaten der Nationalarmee Chiang Kai-shek den Norden Vietnams sowie Laos, um die Japaner zu entwaffnen. Die Chinesen zwingen die Franzosen, die mit ihrer Flotte bereits vor Haiphong stehen, um ihrerseits Tongking zu besetzen, ein Abkommen mit dem Viet Minh zu schließen. Am 6. März 1946 erkennt Frankreich darin die Republik Vietnam offiziell als "Freistaat" innerhalb der Französischen Union an und gesteht diesem eine eigene Regierung, eigene Streifkräfte und eigene Finanzen zu. Im Gegenzug akzeptiert Hanoi die Stationierung französischer Truppen auf seinem Gebiet für die Zeit von mindestens fünf Jahren. In dem Abkommen wird der Status Cochinchinas vertagt, die Frage nach der Wiedervereinigung Vietnams einem noch abzuhaltenden Volksentscheid überlassen.
 
Hô, der sich die volle Unabhängigkeit erhofft hatte, hat mangels internationaler Fürsprache keine andere Wahl: Trotz Roosevelts antikolonialer Haltung lassen die Amerikaner unter Präsident Truman die Franzosen gewähren, weil sie einen zu großen Einfluss der Sowjetunion in Südostasien befürchten. Die Sinnesgenossen aus Moskau sind weit weg, und Mao ist noch nicht an der Macht. Immerhin ist Hô die Chinesen los, die das Land geplündert haben und auf kurz oder lang auch ihn beseitigt hätten. Die Franzosen ihrerseits sind froh, ihre Truppen störungsfrei ins Land bringen zu können, und werden ihr Versprechen eines Volksentscheids bald vergessen haben.
 
Im Süden landen im September 1945 britische und indische Truppen, um auch dort die Entwaffnung der Japaner zu organisieren. Unter dem Schutz der britischen Truppen und mit der Unterstützung gerade freigelassener und wiederbewaffneter Franzosen gelingt es einer französischen Einheit, die provisorische kommunistische Regierung aus dem Regierungspalast in Saigon zu verjagen. Während dessen kommt es auf beiden Seiten zu schweren, rassistisch motivierten Massakern und Lynchmorden. Anfang Oktober landet das Expeditionskorps in Cochinchina und vertreibt die Viet Minh erst aus der Hauptstadt, dann aus der ganzen Kolonie. Der Viet Minh muss wieder in den Untergrund, kann dort aber auf vorhandene Organisationsstrukturen zurückgreifen. Anfang 1946 verlassen die britischen Truppen das Gebiet, die Japaner Mitte des Jahres.
 
Während des Zweiten Weltkriegs war das Continental Palace in der Rue Catinat Sitz bekannter Zeitungsverlage (Newsweek, Times) und Stützpunkt vieler Kriegsreporter. Es stand seit 1930 unter korsischer Leitung. Das angeschlossene Straßencafé wurde von vielen Insulanern frequentiert, die durch ihren breiten Insel-Dialekt den Festlandfranzosen nicht gerade angenehm auffielen. Auch all diejenigen, die darauf erpischt waren, die neuesten Nachrichten des Tages zu erfahren, trafen sich hier zum Apéritif.
 
Das Hotel Majestic dagegen diente in dieser Zeit den japanischen Besatzungstruppen als Kaserne.
 
 

Die koloniale Rückeroberung Indochinas nach 1945

 
Während sich in den Folgejahren in Laos und Kambodscha die Lage verhältnismäßig lautlos stabilisiert und sich dort im Rahmen von Assoziierungsabkommen mit den Franzosen prowestliche Monarchien etablieren, scheitert ein dauerhafter Frieden in Vietnam an der Frage Cochinchinas, das die Franzosen nicht aus der Hand geben wollen. So laufen alle weiteren Verhandlungen zwischen dem Viet Minh und der Kolonialmacht ins Leere. Die vereinbarte Volksbefragung wird von den Franzosen immer wieder verhindert.
 
In Hanoi häufen sich erwartungsgemäß die Spannungen zwischen der Viet Minh-Regierung und dem französischen Militär. Nach dem Beschuss eines Bootes der französischen Wasserpolizei im Hafen von Haiphong, bombardiert die französiche Luftwaffe die Stadt und nimmt Haiphong schließlich ein. Während die Franzosen von 300 Toten sprechen, nennt die vietnamesische Verwaltung die Zahl von 6000.
 
Nach der Bombardierung Haiphongs durch die Franzosen und besorgt, dass diese die Hauptstadt Hanoi angreifen könnten, beschließt Ho Chi Minh einen Frontalangriff gegen sie. Offizier Giáp lässt Armeeposten des Expeditionskorps sowie Häuser von französischen Siedlern in Hanoi und anderen Städten angreifen. Hô selbst flüchtet aus Hanoi und ruft über den Rundfunk zu einem Volksaufstand auf. Doch die Franzosen erwidern jeden Angriff und nehmen schließlich im Februar 1947 die Hauptstadt ein. Hô Chi Minh und seine Regierung gehen abermals in den Untergrund. Es ist der Beginn des Indochinakriegs, der acht Jahre dauern - und die Entscheidung bringen wird.
 
Der bewaffnete Arm des Viet Minh, die vietnamesische Volksarmee der Demokratischen Republik Vietnam, ist anfänglich viel zu schlecht aufgestellt und zu unerfahren, als dass er die Truppen des französischen Expeditionskorps frontal angehen könnte. Am Anfang bestehen die Viet Minh-Kräfte vorwiegend aus dörflichen Selbstverteidigungseinheiten. Erst im Verlauf des Krieges wird sich aus ihnen ein wachsender, flexibler und gut organisierter Verbund von örtlichen Guerillakämpfern einerseits und von überregional operierenden, konventionell ausgerüsteten Vollzeitsoldaten andererseits entwickeln. Auf der französischen Seite besteht der inzwischen auf über 100.000 Soldaten aufgestockte Expeditionskorps dagegen von Anfang an aus erprobten und gut ausgerüsteten Truppenverbänden.
 
Während die Franzosen ihre Nachschubbasen in der Nähe der großen Städte haben und ihre Logistik auf das dünne Straßen- und Schienennetz angewiesen ist, kann ihnen der aus dem Untergrund operierende Viet Minh durch gezielte Sabotageakte und nadelstichartige Angriffe auf diese Transporte empfindliche Verluste zufügen, ohne selbst dabei großen Schaden zu nehmen: Kaum ist ein Angriff durchgeführt, verschwinden die Kämpfer wieder im Dschungel und warten, bis die feindlichen Suchtrupps anrücken, um gleich nochmal zuzuschlagen. Weil sie an immer anderen Orten angreifen, halten sie die Franzosen ständig in Bewegung und können sie nach Belieben dirigieren. Dank dieser Guerillataktik kann der Viet Minh die Franzosen zwar nicht vernichtend schlagen, sie jedoch soweit aufreiben, dass eine militärische Pattsituation entsteht.
 
Im Jahr 1949 leiten meherere Ereignisse eine historische Wende ein. Die Franzosen, die ein Gegengewicht zur Regierung der Volksrepublik in Hanoi setzen möchten, gründen ihrerseits in Saigon den unabhängigen "Staat Vietnam". Oberhaupt wird Kaiser Bao Dai, den die Franzosen eigens aus dem Hong Konger Exil wieder zurückholen. Eine "Nationalarmee" unter französischem Kommando wird aufgestellt. Genauso entlässt Frankreich die Königreiche Laos und Kambodscha in die "Unabhängigkeit" innerhalb der Französischen Union. Auf der anderen Seite übernimmt die kommunistische Partei Mao Zedongs in China die Macht. Die nationalistische Kuomintang-Regierung um Chiang Kai-shek flüchtet auf die Insel Taiwan. Dadurch erhält der Viet Minh einen starken internationalen Partner. Gleichzeitig sehen sich die USA durch den wachsenden Einfluss des Kommunismus bedroht. So wird der Indochinakrieg, der als kolonialer Rückeroberungsfeldzug begann, mehr und mehr zu einem Krieg gegen den Kommunismus, an dem sich die Amerikaner durch kräftige Militärhilfe beteiligen. Die Losung der Franzosen lautet, "das Abendland am Rhein und am Mekong zu verteidigen". Faktisch führt Frankreich Krieg mit amerikanischen Dollars und mit dem Blut der Franzosen und seiner afrikanischen und indochinesischen Schutzbefohlenen.
 
1950 verschärfen sich die Kämpfe im Norden entlang der chinesischen Grenze. Im Oktober erleiden die kolonialen Truppen dort eine empfindliche Niederlage, bei der sie 7.000 Soldaten verlieren. Nach dieser Niederlage ziehen sich die Franzosen aus vielen Gebieten zurück, halten aber die großen Städte sicher. In den folgenden drei Jahren starten die Franzosen mehrere Offensiven, landen aber keinen entscheidenden Schlag.
 
In der Heimat erkennt man, dass der Kampf militärisch nicht mehr zu gewinnen ist und erwägt bereits eine politische Lösung. In der öffentlichen Meinung wird der geführte Kampf als immer fragwürdiger wahrgenommen, zumal die ehemalige Schutzmacht all ihre Gebiete aus eigenen Stücken bereits in die Unabhängigkeit entlassen hat.
 
In Zimmer 214 des Continental Palace schreibt der britische Schriftsteller Graham Greene 1952 seinen berühmten Roman "Der Stille Amerikaner".
 
 

Die Niederlage in Dien Bien Phu und die Teilung Vietnams

 
1954 starten die Franzosen ihre letzte militärische Aktion in Indochina: Im Talkessel von Dien Bien Phu, an einem alten Flugplatz der Japaner unweit der laotischen Grenze gelegen, errichten sie einen robust befestigten Stützpunkt, den sie aus der Luft zu versorgen gedenken, um den angreifenden Feind aufzureiben und ihm den Rückzug nach Laos abzuschneiden. Der Ort weist einen klaren strategischen Vorteil für den französischen Nachschub aus: kurze Flugentfernung nach Hanoi gegenüber 700 km unwegsames Gelände bis zu den Viet Minh-Basen. Unerwartet gelingt es dem Gegner aber, schwere Artillerie unentdeckt und in großer Menge in Position zu bringen. Sie wird mühsam, in Einzelteilen zerlegt, zu Fuß oder auf dem Fahrrad durch den Dschungel geschleppt und dann zum Schutz vor Gegenangriffen in die Erde gebuddelt.
 
So konnte der Viet Minh durch massive nächtliche Angriffe bald die Luftversorgung der Franzosen abschneiden und die Festung einnehmen. Die Opferzahlen: 8000 tote Viet Minh-Soldaten, über 2000 Tote auf französischer Seite. Fast 12.000 gefangene Kolonialsoldaten, von denen 70% auf dem Fußmarsch in die Lager der Viet Minh sterben werden. Nach dem Trauma von Dien Bien Phu verlassen die französischen Truppen Indochina endgültig.
 
Auf der anschließenden Genfer Konferenz von Juli 1954 besiegeln die französische Zentralregierung und die Vietminh-Regierung die Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrads in zwei unabhängige Staaten mit den Hauptstädten Hanoi und Saigon. Zudem sollen 1956 freie Wahlen zur Frage der Wiedervereinigung stattfinden. Aber weder die USA, noch eine Vertretung des neuen "Südvietnam" unterzeichnet diese Vereinbarung - offensichtlich, um später nicht daran gebunden zu sein.
 
Südvietnam wird von Ngô Dình Diêm geführt, einem ehemaligen Mandarin und praktizierenden Katholiken. Sein autoritäres, prowestliches Regime, das von Vetternwirtschaft begleitet wird, bekämpft die Korruption, verbietet Glücksspiel und Abtreibung, verfolgt Kommunisten und benachteiligt die buddhistische Mehrheit.
 
Im kommunistischen Norden stellt sich dagegen ein antiwestliches und antichristliches Einparteiensystem ein, wo Zehntausende Menschen in Umerziehungslagern sterben. Bis 1955 setzt sich deshalb mehr als eine halbe Million Menschen aus dem kommunistischen Norden in den prowestlichen Süden ab: vor allem Angehörige des französischen Militärs, vietnamesische Katholiken, Königstreue und jene Franzosen, die nicht bereits in ihre Heimat zurückgekehrt waren.
 
Der despotische Stil Diems und dessen prowestliche Politik führt im weiteren Verlauf zu seiner Ermordung (1963) und zur Bildung der kommunistischen "Nationalen Befreiungsfront Südvietnams", im Westen unter der Bezeichnung "Viet Cong" bekannt. Die zunehmende Präsenz amerikanischer Truppen in Südvietnam mündet schließlich in den Vietnamkrieg, an dessen Ende 1975 die Teilung Vietnams zugunsten der Kommunisten überwunden wird.
 
 

Die Amerikanisierung Südvietnams

 
Das zunehmende militärische Engagement der USA ab den 1960er Jahren verdrängt die französische Sprache langsam, aber sicher zugunsten des Englischen. Französisch wird heute kaum noch gesprochen und nur noch von wenigen Alten verstanden. Man begegnet dem Französischen aber noch in der Schriftform: auf alten Häuserfassaden, auf manchen Straßenschildern und in manchen Insignien.  
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Französisches Schild einer Seifenmarke in Hoi An (Zentral-Vietnam)
Eine traurige Begegnung mit der französischen Schrift hatte ich in dem ehemaligen Foltergefängnis Tuol Sleng der Roten Khmer in Phnom Penh. In dem aus der Kolonialzeit stammenden Schulgebäude ist eine Schultafel erhalten, auf der die Verhaltensanweisungen für Häftlinge noch zu entziffern sind. Links in der Khmersprache, rechts daneben in schönster französischer Schreibschrift. Dort ist unter anderem zu lesen: "Il est absolument interdit de faire du bruit." - Es ist streng untersagt, laut zu sein. 
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Verhaltensregeln für Häftlinge auf früherer Schultafel der Franzosen
 
Nach der Spaltung des Landes in Nord und Süd entledigt sich die neue Regierung der Symbole ihres kolonialen Erbes. So wurde 1955 die Rue Catinat in "Rue Tu Do" (Straße der Freiheit) umgetauft. Und das korsische Vergnügungslokal Croix du Sud hieß von nun an, ganz im Trend der neuen Zeit, "Cabaret Tu Do" (Cabaret der Freiheit). Das Parlament Südvietnams richtete sich im schmucken ehemaligen Städtischen Theater ein.  
Das Hotel "Caravelle" in Saigon, Vietnam
Die Gebäudearchitektur wird moderner und befreit sich von kolonialen Vorbildern. In Saigon wird in die Höhe gebaut. So wurde am Heiligen Abend 1959 in unmittelbarer Nähe des Theaters das zehnstöckige "Caravelle Hotel" eröffnet. Das schönste Hotel seiner Zeit glänzte mit einer Menge italienischem Marmor, einer zentralen Klimaanlage und sogar einer kugelsicheren Glasfassade. Es beherbergte die Botschaften von Neuzeeland und Australien und war der Sitz großer amerikanischer Nachrichtenagenturen. Im Erdgeschoss waren die Büros der Fluggesellschaft Air France, die möglicherweise Namensgeber für das Gebäude war: "Caravelle" war nicht nur der Name eines Segelschiffs, das im 15. Jahrhundert auf allen Weltmeeren unterwegs war, sondern auch der Name eines neuen Düsenpassagierflugzeugs, das die Gesellschaft Ende der fünfziger Jahre auf Mittelstrecken einsetzte. Heute steht der ursprüngliche Bau am Fuß des noch höheren und eleganteren Hotelturms mit dem zu einem Halbkreis gezogenen Schriftzug "Caravelle Hotel".
 
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Alte und neue Architektur in Saigon
Spaziert man heute durch das Zentrum Saigons, fällt ein buntes Nebeneinander von alten und neuen Gebäuden auf. Und nicht nur in Saigon, sondern auch in Hanoi und in allen anderen Städten des kolonialen Indochinas ist das so. Anders als in manch anderem Land nach einem politischen Umbruch, haben die Nachfolgeregimes hier die von den Franzosen hinterlassene Infrastruktur weder beseitigt, noch verfallen lassen. Darin manifestiert sich auch ein Wesenszug der Vietnamesen, Khmer und Laoten: Diese Menschen gelten als offen, sehr pragmatisch und nach vorn gewandt. Ferner gelten die Vietnamesen (angeblich mehr als Laoten und Khmer) als äußerst fleißig. Fakt ist jedenfalls, dass Vietnam heute das mit Abstand dynamischste und wirtschaftlich stärkste Land auf der südostasiatischen Halbinsel ist - neben Thailand, das aber auf eine ganz andere Geschichte zurückblickt.
 
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Fassade des Restaurant "Le Bouchon de Saigon"
In Indochina haben sich heute wieder Franzosen niedergelassen, einige von ihnen sind Nachfahren ehemaliger Siedler oder Kolonialbeamter. Sie betreiben nicht selten ein Restaurant oder eine Bar und lassen mit ihrer Gastronomie die koloniale Tradition weiterleben. So das "Ty Coz" in Saigon: ein französisches Restaurant, das von zwei bretonische Brüdern im Rentenalter betrieben wird. Der eine steht in der Küche, der andere an der Kasse und im Service, sekundiert von seiner vietnamesischen Ehefrau. Die Küche tischt sehr gute französische Hausmannskost auf, die aus ausschließlich frischen Zutaten bereitet wird. Eine empfehlenswerte Adresse in einer Hintergasse der Rue Pasteur (Nr 178/4) nicht nur wegen der Küche: Hat man Glück und kriegt mal den Hausherrn an den Tisch, sei es bei der Bestellung oder für eine Zwischenfrage, lernt man einen sehr kommunikativen Menschen kennen, der mit seinen Erzählungen über das gute alte Indochina zu begeistern weiß. Mit seinem jetzigen Leben ist er sichtlich zufrieden!  
 
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Zeitvertreib in der Rue Catinat in Saigon
Die verklärende Kolonialromantik mancher (älterer) Zeitgenossen stützt sich vor allem auf die Erzählung eines unbeschwerten Lebens in einem Land mit einem sonnigen Klima und freundlichen Menschen. Zu dieser Wahrheit gehört freilich genauso, dass sich dieses Leben nur Angehörige einer "zivilisierten" Herrenrasse leisten konnten, die ihre Privilegien der militärischen Überlegenheit ihrer Truppen verdankte. Was dieses Leben dem männlichen Mitteleuropäer, der den indigenen Frauen sehr zugetan war, zusätzlich versüßte, war der Umstand, dass sich die Asiatinnen solchen Annäherungen nicht grundsätzlich verschlossen. Davon zeugt nicht zuletzt die im kolonialen Kontext sehr hohe Zahl von Mischlingen, die aus den (legalen und illegalen) Beziehungen europäischer Männer mit vietnamesischen Frauen hervorgegangen sind. Ein Phänomen, das es zum Beispiel in den kolonisierten Maghreb-Staaten nicht gab.