DIDIER HINZ REISEFOTOGRAFIE

Marrakesch rund um den Jemâa El Fna (2017)
dh / 9. May 2017

Marrakesch rund um den Jemâa El Fna (2017)

Wie der Platz der Gaukler mit der Zeit geht

Platz Jemaa el-Fna in Marrakesch: Orangensaftstände
Die Millionenstadt Marrakesch gehört mit Casablanca, Fès und Tanger zu den vier großen Städten Marokkos. Sie schmücken gleich mehrere Beinamen: "Perle des Südens" und "Tor zur Wüste" weisen auf ihre Rolle als bedeutender Warenumschlagplatz zu Zeiten des Karawanenhandels mit Schwarzafrika hin. "Die Rote" heißt sie wegen der ocker-roten Farbgebung ihrer Häuser. Dass Marrakesch außerdem zu den vier "Königsstädten" des Landes gehört, geht auf die Herrschaft der Almoraviden, Almohaden und Saadier zurück, die sie jeweils im 11., 12, und 16. Jahrhundert zu ihrer Hauptstadt machten. In den Herrschaftsperioden dazwischen und danach war der Sitz der Sultane Fès oder Meknès. Rabat wurde es erst im 20. Jahrhundert.
 
Die Fremdnamen "Maroc", "Marruecos" und "Marokko" für das Land sind übrigens alle dem portugiesischen Namen der Stadt entliehen: Marrakesch hieß auf Portugiesisch "Marrocos".
 
Das touristische Highlight von Marrakesch ist ohne Zweifel die Medina. Bereits im Mittelalter war sie Drehscheibe für Waren, Menschen und Informationen aus dem "Land der Schwarzen" - dem "Sudan", wie es die Europäer in klanglicher Anlehnung an das arabische Wort nannten. Aus einer Gegend also, die im heutigen Senegal und Mali zu verorten ist und deren Entfernung mehr als 60 Kamelritttage betragen konnte. 
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Gässchen in der Medina von Marrakesch bei Nacht
Ein Gang durch die Medina kann leicht zu einem kleinen Abenteuer werden. Vor allem bei Nacht, wenn man in dem Labyrinth der engen, schummerigen Gassen seinen Heimweg sucht. Niemand weit und breit, den man fragen könnte. Ein einsamer Kater, der sich im blassen Lichtkegel einer Gaslaterne auf die Lauer gelegt hat, zieht sich hastig in das Dunkel zurück und wartet, bis sich der späte Besucher wieder entfernt hat. Erkennt man nach einigen Abbiegungen endlich den Eingang seiner Unterkunft wieder, ist man erleichtert und nicht mehr weit von seinen Nachtträumen entfernt... Am nächsten Morgen ist das kleine Viertel Ben Salah, wo wir in einer so versteckten wie luxuriösen Herberge übernachteten, neu erwacht: Die wärmende Sonne lässt schnell Betriebsamkeit aufkommen und betörende Gerüche durch die Gassen strömen...
 
Das Marktangebot in der Medina hat sich im Laufe der Jahre (vermutlich auch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte) kaum verändert. Gewürze, Backwaren, Süßigkeiten, Obst, Gemüse, Schlachtfleisch, Fisch und lebende Tiere, Schmuck, Kunsthandwerk, Musikinstrumente, Leder- und Korbwaren - in den Suqs lässt sich fast alles finden. Allerdings beobachtet man beim traditionellen Kunsthandwerk eine fragwürdige Entwicklung. Ein Beispiel: Marokko ist bekannt für seine Lampenschirme aus massivem, ausgestanztem Kupferblech. Die Schirme haben traditionelle Formen und werfen filigrane Schattenmuster an Decken und Wände. Diese Lampen, die bisher in kleinen Werkstätten hergestellt wurden, sind plötzlich kaum mehr aufzutreiben. Als Ersatz gibt es nun überall asiatische Billigimitate, die nicht mehr von Hand und aus wertvollem Kupfer, sondern maschinell aus dünnem, recycleten Weißblech gefertigt sind. Wer genau hinschaut, entdeckt an der Innenseite sogar buddhistische Stanzmuster, die eine frühere Verwendung des Blechs verraten.
 
Geht man in dem endlosen Gewirr von Gassen und Gässchen der Medina auf Einkaufstour, ist man mit einem guten Orientierungssinn klar im Vorteil. A propos Orientierung: Bevor man sein Glück in einer aussichtslosen Situation dem Zufall überlässt, sollte man lieber dem Gedränge folgen. Dort, wo sich Wege verzweigen, folge man einfach der Mehrheit. So dürfte die Wahrscheinlichkeit groß sein, irgendwann auf einem großen zentralen Platz zu landen: dem "Platz der Gaukler", wie er oft genannt wird, dem Jemâa El Fna, wie er offiziell heißt, was übersetzt vermutlich so etwas wie "Platz der Toten Seelen" bedeutet. Obwohl es diesbezüglich auch andere Deutungen gibt.  
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Kleiner Kunsthandwerksmarkt in der Medina von Marrakesch
Dieser Platz war einst nicht nur Warenumschlagplatz, sondern stets auch Kommunikationszentrum. In Zeiten, wo es weder Fernsehen noch Zeitungen gab, war man auf "Geschichtenerzähler" angewiesen, die über die fernen Herkunftsländer mündlich berichteten und dabei ihre Geschichten natürlich reichlich ausschmückten. Ihre Zuhörerschaft war entsprechend groß. Anderen Besuchern versüßten Gaukler und Schlangenbeschwörer den Aufenthalt. Diese uralte Kultur hat sich bis heute erhalten und zieht jedes Jahr Millionen von Touristen aus aller Welt an.
 
Beobachtet man den Platz über einen ganzen Tag, am besten bei einem Glas gut gesüßtem Minztee, von der Terrasse im ersten oder zweiten Stock des "Café de France" 31°37′34″N 7°59′14″E aus, hat man das Gefühl, auf eine große Bühne zu schauen, die nach einer klugen Choreografie mehrfach ihre Ausstattung, ihre Protagonisten und ihr Publikum wechselt... 
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Das marokkanische Nationalgetränk "Thé à la menthe"
Am Morgen ist der Platz noch wenig besucht. Händler und Kunden der angrenzenden Suqs überqueren ihn eilig, um an ihr Ziel zu kommen. Obwohl der Platz für den Verkehr gesperrt ist, werden Motorräder, Taxis, Pferdekutschen und Eselskarren in diesen frühen Stunden toleriert. Eine Doppelreihe von Orangensaftständen steht immer hier. Die als Verkostungsstände umgebauten und appetitlich drapierten Kutschenwagen sind bereits zum Wahrzeichen des Platzes geworden. Das Glas Frischgepresstes kostet 4 Dirham, das sind weniger als 40 Eurocent. Ein wenig weiter in Richtung Koutoubia-Moschee tummeln sich die berüchtigten Wasserträger. In ihren leuchtendroten Umhängen, bunten Bommelhüten und ihrem kupfernen Geschirr sind sie stets auf der Lauer nach Touristen, die auf das sich bietende Fotomotiv nur gewartet haben... Wehe aber dem, der meint, ungestraft einen Erinnerungsschnappschuss machen zu dürfen! Eine energische Zahlungsaufforderung würde auf dem Fuß folgen. Es ist nicht leicht, sich solcher Urheberrechtsansprüche zu entziehen!
 
Am frühen Nachmittag kommen die ersten fliegenden Händler und steuern ihren angestammten Platz an. Das Angebot reicht vom Kunsthandwerk aus Schwarzafrika über Artikel des täglichen Bedarfs bis zum künstlichen Fertiggebiss. Aber auch Dienstleistungen werden angeboten. So sitzen zum Beispiel verschleierte Frauen an kleinen Tischchen und bemalen die Hände und Füße ihrer Kundinnen mit Henna. Das applizierte Muster darf man sich zuvor in einer Bildermappe aussuchen. Nach der Anwendung heißt es, eine Weile stillsitzen und warten, dass die Farbe antrocknet.
 
Bald versuchen die ersten Musikanten, eine Hörerschaft um sich zu versammeln. Dem Anschein nach sind es Nachfahren früherer Sklaven, sog. Haratin. Ihre quäkenden Flöten (Ghaita, Zammara und Nira) und ihre durchdringenden Schlaginstrumente (Qarqaba, Darbuka, Bendir) sind nicht zu überhören. Ihre Darbietung erinnert an die Musik der Gnaoua, deren sufistische Tradition auf dem gleichnamigen Weltmusik-Festival in Essaouira jeden Sommer gefeiert wird.
 
Langsam, aber sicher strömen die Besucher auf den Platz: Durchreisende, Neugierige, Gelangweilte und diejenige, die nur auf eine günstige Gelegenheit warten. Natürlich auch zahlreiche westliche Touristen, aber sie sind keineswegs in der Mehrheit. Ein Umstand, der dem Platz zumindest noch einen Rest von Authentizität lässt. Wenn genug Volk gekommen ist, lohnt sich auch die Arbeit der Gaukler und Geschichtenerzähler. Sie schaffen es auf sonderbare Weise, die Spannung bei ihren Zuhörern dauerhaft hoch zu halten. Anders wäre nicht zu erklären, dass sich die Menschentraube, die sich um ihre kleine Bühne herum bildet, bis spät in die Nacht nicht auflöst.
 
Mittlerweile haben auch die Schlangenbeschwörer und Affenhalter genug Publikum. Das Geschäft der Schlangenbeschwörer hat sich gewandelt: Während sie sich früher mit freiwilligen Almosen zufrieden gaben, nutzen sie heute jede Gelegenheit, ihre gezähmten Kobras Passantinnen ungefragt um den Hals zu legen, und deren Begleitung den Moment des Schrecks als lustiges Fotomotiv anzubieten - gegen eine Gebühr, versteht sich.
 
Die Affenhalter zu beobachten, ist nichts für Tierfreunde: Die zierlichen Atlas-Affen, oft an einer eisernen Halskette gehalten, wirken verängstigt und bekommen immer wieder die Gummirute ihrer Peiniger vor die Nase gehalten, damit sie bei ihren einstudierten Kunststückchen ja bei Laune bleiben. Die armen Tiere tragen alle Babywindeln, damit ihr Kot nicht auf den Platz fällt. Die Zielgruppe der Affenhalter sind vor allem Kinder, deren Mütter sich allzu gerne zu einem Gruppenbild mit Äffchen hinreißen lassen. Wenn die Tiere nicht "im Dienst" sind, werden sie in schwere, enge und dunkle Holzkisten gesperrt.
 
Gegen 17 Uhr geht es dann richtig los. Unzählige Fressstände werden aufgestellt, große Aluminiumtöpfe kommen aufs Gas, die ersten Holzkohlengrills beginnen zu qualmen... Die Garküchen bereiten sich auf ihre ersten Gäste vor. Gleichzeitig zeigt die Polizei mehr Präsenz auf dem Platz. Illegale Händler werden vertrieben. Die Toleranz gegenüber Autofahrern und Pferdekutschern, die auf den Platz fahren wollen, wird auf Null zurückgefahren. Das ist vor allem für jene Kutscher ärgerlich, die bereits Touristen an Bord haben, denen sie zuvor eine Fahrt über den Platz versprochen haben. Statt erhaben an Musikanten und Gauklern vorbei zu kutschieren, müssen sich die Fahrgäste dann in die Blechlawine des Berufsverkehrs einreihen... 
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Platz Jemaa el-Fna in Marrakesch: Schnecken-Garküchen
Bei Einbruch der Dunkelheit verlassen die Wasserträger wieder den Platz. Die Affenhalter sperren ihre Tierchen wieder in die Holzkiste und ziehen ebenfalls ab. Doch an den meisten Ständen wird lediglich das LED-Panel eingeschaltet und bis spät in die Nacht weitergemacht.
 
Der Garküchenbereich ist riesig. So wie die Suqs nach Produkten sortiert sind, sind auch die Fressstände nach Spezialitäten aufgestellt. Da gibt es zum Beispiel einen eigenen Schneckenbereich. Ein anderer Bereich ist auf Innereien spezialisiert: Hier isst der weniger betuchte Besucher gebratene Kutteln, gegrillte Schafsköpfe oder Schafsfüße. Der größte Bereich ist aber auf die Bedürfnisse der ausländischen wie inländischen Touristen zugeschnitten. Hier gibt es selbstverständlich die Nationalgerichte Tagine (den marokkanischen Fleisch-Schmortopf) und Couscous, aber auch gegrillte Fleischspieße, Salate, ja sogar Spaghetti. Obwohl man unter freiem Himmel auf wackligen Holzbänken sitzt, ist das Preisniveau dem eines Restaurants der gehobenen Klasse in der Neustadt würdig. Immerhin isst man hier in der Regel recht gut!
 
Damit keine Sitzplätze über längere Zeit leer bleiben, sorgt ein Heer von Anwerbern dafür, dass der unentschlossene Gast nicht unnötig lang beim Nachbarn und Nachbarsnachbarn schauen geht, sondern gleich dort die Speisekarte studiert, wo sie ihm schon unter die Nase gehalten wird. Tatsächlich lohnt es kaum, lange nach dem besten oder billigsten Stand zu suchen: Sowohl das Angebot als auch die Preise sind überall dieselben.
 
Am späten Abend, wenn alle satt sind, lichten sich die Reihen an den Garküchen. Auch bei den Gauklern, Geschichtenerzählern, Glücksspielern und Wahrsagern wird es leerer. Nach einem letzten Rundgang über den Jemâa El Fna wird es Zeit, im Dunkel der Gassen der Medina den Nachhauseweg anzutreten. 
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Über den Dächern von Marrakesch
In unserer Herberge, dem Riad Dar Al Qadi im Viertel Ben Salah, wird das Frühstück auf der Dachterrasse serviert. Von dort oben hat man einen herrlichen Blick über die Dächer von Marrakesch. Hier und dort ragt das Minarett einer Moschee aus dem Dächermeer. Nach Süden hin, in weiterer Ferne, stellen sich die verschneiten Gipfel des Atlas-Gebirges vor den Horizont. Am Terrassenmobilar der Nachbarn merkt man, dass in diesem nach außen so unscheinbaren Viertel wohlhabende Menschen leben. Ihre Insignien sind Swimmingpools, komfortable Sitzmöbel und das obligatorische Hauspersonal.
 
Als ich vor vielen Jahren den Platz zum ersten Mal besuchte, haben mich seine Gaukler, Musikanten, Geschichtenerzähler und Wahrsager verzaubert. Ich fühlte mich wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Damals war der Platz nocht nicht gekachelt, man lief auf der nackten Erde und musste sich die Augen zuhalten, wenn ein Sturm aufkam und den feinen Sand aufwirbelte. Und in der Nacht wurden noch Karbidlampen angezündet, um die Stände zu beleuchten. Unter älteren Menschen, die die Entwicklung des Platzes über einen längeren Zeitraum miterlebt haben, ist man sich darüber einig, dass der einstige Zauber vollends dem Kommerz gewichen ist - und trauert der alten Zeit nach. Aber ist das nicht eine Frage der Perspektive? Touristen, die den Platz heute zum ersten Mal entdecken, verzaubert er jedenfalls nach wie vor, wie man hört. Habe auch ich vielleicht diesen Platz nur zu häufig besucht?
 
Eine der Sehenswürdigkeiten von Marrakesch ist der Kakteengarten "Jardin Majorelle". Der Name geht auf den französischen Maler Jacques Majorelle zurück, der sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Marrakesch niederließ und ein paar Jahre später diesen Garten anlegte. Nach Majorelles Tod kaufte der Modeschöpfer Yves Saint Laurent den Garten und gründete eine Stiftung zu dessen dauerhaften Erhalt. Als Yves Saint Laurent 2008 starb, wurde seine Asche im Garten verstreut. Im ruhigen hinteren Teil des Gartens erinnert heute eine Gedenktafel an den 1936 im algerischen Oran geborenen YSL.  
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Diese Leitfarben gestalten den Jardin Majorelle in Marrakesch
Der Garten beeindruckt nicht nur durch seine botanische Vielfalt, sondern auch durch seine ästhetische Gestaltung. Sie operiert mit wenigen, ausgesuchten Farbakzenten, von denen ein bestimmtes Kobaltblau dominiert. Es wurde dem Gründer zu Ehren "Majorelle-Blau" getauft. Der Eintritt (umgerechnet 7 Euro per Person) lohnt sich unbedingt!