DIDIER HINZ REISEFOTOGRAFIE

Tanger: Auf den Spuren der Goldenen Jahre
dh / 18. Jul 2018

Tanger: Auf den Spuren der Goldenen Jahre

Keine 15 Km trennen Afrika von Europa

Tanger ist eine Millionenstadt im marokkanischen Rif-Gebirge, das hier, an der Nahtstelle von Atlantik und Mittelmeer, steil ins Meer fällt. Das Gewässer ist als "Straße von Gibraltar" bekannt und trennt Afrika von Europa, das an der engsten Stelle keine 15 km entfernt ist. Das Gebirge ist das traditionelle Siedlungsgebiet der Rif-Berber, die sich in ihrer Geschichte immer wieder als besonders kämpferisch gezeigt haben. Sie waren es zum Beispiel, die sich in der Kolonialzeit am heftigsten gegen ihre "Befriedung" zur Wehr setzten und die, nach der Unabhängigkeit (1956), gegen Bevormundungen durch den Sultan immer wieder aufbegehrten. Diese Erwähnung hilft zu verstehen, warum die Zentralmacht in Rabat den Norden Marokkos so lange und so systematisch benachteiligte.  
Die Bucht von Tanger mit Blick auf Europa
Erst der jetzige König, Mohammed VI., liebevoll "M6" genannt, begann die Rif-Gegend mit großen Infrastrukturprojekten wie dem neuen Mit­tel­­­­meer­hafen Tanger-Med wirt­schaftlich zu fördern und zu modernisieren. Schnell wurde Tanger für die Menschen aus dem Umland attraktiv. Dieser Zustrom lässt die Stadt heute noch täglich wachsen.  
Spanische Architektur in der Altstadt von Tanger
Verwinkeltes Gässchen in der Altstadt von Tanger
 
Einen besonderen touristischen Wert sieht man der Stadt, die an ihren Rändern immer noch einer Großbaustelle gleicht, auf den ersten Blick nicht an. Dabei durchlebte Tanger in den 1930er, 40er und 50er Jahren eine in Afrika beispiellose Zeit der kulturellen Blüte und des multiethnischen Miteinanders. Es war die Zeit der "internationalen Zone", als Tanger als zollfreies Gebiet von Franzosen, Spaniern, Italienern und Briten gemeinsam verwaltet wurde. Zu den einheimischen Juden, die traditionell kleine Handwerker waren, und den Muslimen, die auf Straßenmärkten (souqs) und in Krämerläden (épiceries) Kleinhandel betrieben, strömten Geschäftsleute aus aller Welt nach Tanger. Auch zahlreiche Spanier verließen ihre Heimat, um dem Bürgerkrieg zu entkommen. Während zum Bei­spiel Bäckereien, Konditoreien und Cafés in Tanger von Franzosen und Spaniern betrieben wurden, war der Handel mit Textilien und Elektronik (damals kamen Transistorradios aus Japan neu auf den Markt) fest in der Hand von Indern.
 
Der Schriftsteller Paul Bowles in Tanger (Foto: Herbert List)
Die herrschende Atmosphäre in jenen Jahren war von einer einzigartigen Freizügigkeit geprägt. Das betraf insbesondere den Zugang zu Drogen sowie die Einstellung zur Homosexualität. Neben Ganoven und anderen zwielichtigen Gestalten kamen so auch Sinn­sucher, Bohémiens und Abenteurer nach Tanger, denen sich später Künstler und Schriftsteller anschlossen. Unvergessen in diesem Zusam­menhang ist der Name des ameri­ka­nischen Komponisten und Schriftstellers Paul Bowles, der Tanger viel verdankt, der Stadt aber auch viel gegeben hat. Darunter zahlreiche Erzählungen und Romane ("Himmel über der Wüste").  
Es ist unter anderem ihm zu verdanken, dass es Nostalgiker heute noch nach Tanger lockt. 
 
Blick auf den Stadtstrand von Tanger
 

Tanger, vom Hafen aus gesehen

Rif-Frauen in traditioneller Kleidung
Die Entwicklung der Stadt begann am heutigen Fährhafen und weitete sich von dort nach und nach auf die umliegenden Berghänge des Rif-Gebirges aus. Entsprechend steil und anstrengend sind heute die meisten Fußwege. Auf dem hohen Felsen vor dem Hafen thront die Kasbah, deren Festungsmauer bereits von den Portugiesen im 15. Jahrhundert errichtet wurde. An ihrer vorderen Felswand "klebt" das legendäre Hotel Continental aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, wo viele Neuankömmlinge ihre ersten Nächte verbrachten.  
Auf dem Berghang unterhalb der Kasbah schließt sich die Medina an, die Altstadt von Tanger mit ihren unzähligen Gassen, Treppen, Plätzen und Terrassen. Die Medina war und ist das Herz der weißen Stadt: Wo zu Zeiten der Internationalen Zone die Einheimischen wohnten und die ansässigen Europäer ihre Tageseinkäufe erledigten, lassen sich heute Touristen von dem orientalischen Flair inspirieren. 
 
 
 
 
Etwas höher auf dem Berg, in einem Halb­bogen um die Medina, liegt die europäische Neustadt aus dem 20. Jahrhundert. Ihre Haupt­ader ist die Achse Boulevard Mohammed V - Boulevard Pasteur, wo einst die Spanier ihren Paseo abhielten, den allabendlichen Flaniergang. Die in den Abgasen und dem Gehupe des Autoverkehrs heute erstickende Zeile endet am Place de France, wo man von der Terrasse des legendären Gran Café de Paris aus direkt auf das französische Konsulat blickt.
 
Biegt man dort rechts ab, geht es steil bergab zum Grand Socco, dem "großen Marktplatz", von wo aus man durch Torbögen in die Medina gelangt.
 
Die noch höher gelegenen westlichen Viertel von Tanger sind vom Hafen aus schwer zu erkennen. Dort, auf dem "Alten Berg" (Vieille Montagne), wohnen die Reichen und Super­reichen abseits des Lärms der Innenstadt. Ihre Villen, damals europäischen Landhäusern nach­empfunden, heute supermodern, haben eine uneinnehmbare Sicht auf die Meerenge von Gibraltar.
 
Der Großteil der heutigen Bevölkerung jedoch lebt noch weiter außerhalb, in Gebieten, die vor wenigen Jahren noch Brachland waren. Unten am Strandufer verläuft eine vierspurige Prachtstraße mit großzügiger Promenade. Die Avenue Mohammed VI ist von hippen Clubs und Restaurants gesäumt. Jenseits der Straße lenkt die breite Strandbucht den Blick direkt auf das europäische Festland und lässt bei klarem Wetter die spanische Küste erkennen. Während einst Menschen von dort kamen und in Tanger ihr Glück fanden, sehnt sich heute so mancher Marokkaner nach dem anderen Ufer. Dieses wird ihm aber gerade von jenen verwehrt, die einst frei in seine Heimat kamen, heute aber dabei sind, ihren Kontinent nach außen abzuschotten.
 
 

Streifzug durch Tanger

Einen ersten Streifzug durch Tanger beginnt man am besten auf dem Boulevard Pasteur. Die belebte Geschäftsstraße führt an Läden aller Art vorbei, darunter einige wenige traditionsreiche Institutionen, die die Zeiten überlebt haben.  
Die literatische Buchhandlung Librairie des Colonnes in Tanger
Eine davon ist die ehrwürdige Librarie des Colonnes, eine Buchhandlung alten Stils, ein intimer Ort, deren erste Sinneswahrnehmung der angenehme Duft der frisch gewachsten Holzdielen ist. Im Zentrum der Auslage: Werke von Schriftstellern, die mit der Stadt Tanger verbunden sind. Die Besonderheit: Die meisten Werke liegen in verschiedenen Sprachausgaben vor: Französisch, Spanisch, Englisch, ja mancher Titel sogar in Deutsch. Bereits 1949 eröffnet, einst Außenposten des französischen Literaturverlags Gallimard, war die Buch­handlung in den 50er, 60er und 70er Jahren der Treffpunkt der Literatenszene. Das ist nicht zuletzt einer Frau zu verdanken, die den kleinen Laden ein Vierteljahrhundert lang leitete. Rachel Muyal, die der jüdischen Gemeinde von Tanger angehörte, muss wohl eines Tages zu einer weniger bedrohten Religion konvertiert haben, um der Stadt treu bleiben zu können: der der Bücher... 
Müßiggang auf der Terrasse des Paresseux
Kanone auf der Terrasse des Paresseux
Etwa hundert Meter weiter kommt man an einer berühmten Aussichtsplattform vorbei, der Terrasse des Paresseux. Der französische Name bedeutet ′Terrasse der Faulen′ und bezieht sich auf eine Zeit, als die Bauern und Händler auf dem Weg zum Markt ihren Lasteseln und wohl auch sich selbst hier eine kurze Verschnaufpause vor dem steilen Abstieg gönnten. Heute sitzen junge Leute auf der Mauer, kauen Erdnüsse und beobachten (faul?) das vorbei ziehende Leben. Kinder besteigen gerne die alten Bronzekanonen, die auf die Meerenge gerichtet sind, aber angeblich niemals gefeuert haben.
 
Gleich eine Ecke weiter befindet sich das Gran Café de Paris: Die Institution, die in den 30er Jahren sicher glanzvollere Tage kannte, zählt immer noch zu den meistbesuchten Cafés der Innenstadt. Warum hier nicht gleich einen bitter-süßen Thé à la menthe oder einen kräftigen Café cortado schlürfen? Bestellen kann man hier, wie fast überall in der europäischen Stadt, wahlweise auf Spanisch, Französisch oder Arabisch. Der zweithäufigste Gruß ist, nach "salam-alaikum", immer noch "buenos dias", nicht "bonjour".  
Vom Grand Socco hinunter zum Petit Socco
Weiter geht es den Hang hinunter in Richtung Grand Socco. Der Name ist ein für Tanger typischer Sprachmix: ′Grand′ ist französisch, ′Socco′ ist die hispanisierte Form des arabischen ′Souq′ (Markt). Auf dem Weg dorthin kommt man an dem 5-Sterne-Hotel El-Minzah vorbei, das 1930 von einem britischen Aristokraten im maurisch-andalusischen Stil eröffnet wurde. Wer sich die Zimmerpreise nicht leisten kann oder mag, darf sich zumindest zu einem leckeren Cocktail im Patio niederlassen. Die Atmosphäre lohnt.
 
Der Grand Socco war ursprünglich der Goldmarkt der Stadt. Heute ist es eine von wenig einladenden Verkaufsläden gesäumte, große Verkehrsinsel. Ihr offizieller Name, "Platz des 9. April 1947", erinnert an die historische Rede des Sultans, in der er sich erstmals für die Unabhängigkeit des Landes aussprach. Das alte Kino Cinéma Rif am selben Platz beherbergt das Filmarchiv von Tanger.  
Brotfrauen auf dem Gran Socco
Der Grand Socco bildet die Grenze zwischen europäischer Neustadt und Medina. Die Faszination, die ein Gang durch die Medina bei einem Europäer hervorrufen mag, ist schwer festzumachen. Ausgelöst wird sie von einer Vielzahl von Sinneswahrnehmungen: von den bunten Farben der Häuser und der Märkte und der einzigartigen Mischung von Düften, die von ihnen ausgehen; von einer mancherorts unwirklich anmutenden, an eine Escher-Zeichnung erinnernden Architektur mit ihren ineinander verschränkten Gassen, Treppen, verborgenen Plätzen, Brunnen und Terrassen, derer Schatten und Halbschatten; von dem geheimnisvollen Stimmengewirr, das der Besucher nicht zu entschlüsseln vermag; von den mensch­lichen Gestalten schließlich, deren Verhalten er nicht einordnen kann... Dieses Panoptikum hat niemand einfühlsamer beschrieben als der Amerikaner Paul Bowles, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Tanger niederließ und hier den Rest seines Lebens verbringen sollte.  
Olivenstand im Kleinen Socco
Zentrum der Medina damals wie heute ist der kleine Marktplatz am Ende der Rue Siaghine: je nach Sprachpräferenz Zoco Chico, Socco Chico oder Petit Socco genannt. Auf diesen "mythischen" Ort wird in zahlreichen Romanen Bezug genommen. Einst war er Treffpunkt vieler Künstler und prominenter Besucher, aber auch von Spionen und Ganoven. Und der einfachen Leute, die hier heute noch, neben Touristen, ihren Minztee schlürfen. Das berühmte Café Tingis ist nach der antiken römischen Siedlung benannt, aus der das heutige Tanger entstanden ist. In derselben Straße ragt der Glockenturm einer katholischen Kirche aus den Dächern: Die ehemalige Kathedrale, La Purisima, ist heute ein Kloster des Ordens Mutter Teresas und leistet Sozialarbeit.  
Das Café Tingis am Socco Chico
In die Kategorie "mythisch" fallen zwei weitere Orte, die vor allem von Nostalgikern der Beat Generation gerne aufgesucht werden. Im [[35.7809,-5.8082 Hotel El-Muniria]] am Rande der Medina hatte der amerikanische Schriftsteller William Burroughs Mitte der 50er Jahre das Zimmer 9 belegt, wo er unter Einfluss von Opiaten seinen berühmten Roman "Naked Lunch" schrieb.  
Tanger Inn: Das Hotel mit dem berühmten Zimmer 9
In dem 1921 eröffneten [[35.7914,-5.8218 Café Hafa]], einem malerischen terrassenförmigen Gebäude, das an einer Felswand über dem Atlantik lehnt, verkehrte ebenfalls westliche Prominenz. Paul Bowles war oft hier. Trotz des stürmischen Windes, der ununterbrochen über den Hang fegt, steigt dem Besucher ein unverkennbarer Hauch von Haschisch in die Nase.
 
An Orten, die während der Zonenzeit Brennpunkte gesellschaftlichen Lebens waren, mangelt es in Tanger wahrlich nicht!
 
Ein Ort ganz anderer Art ist der jüdische Friedhof von Tanger. Er zeugt einerseits von der bedeutsamen gesellschaftlichen Rolle der jüdischen Gemeinde im Norden Marokkos, andererseits offenbart er aber auch eine traurige, oft vergessene Wahrheit: Um die "Befriedung" seiner eroberten Gebiete im Rif zu erzwingen, setzte Spanien in einem blutigen Krieg (1921-1926) Giftgas (aus deutscher Produktion) gegen die Bevölkerung ein. Eine Häufung von Gräbern aus den Jahren um 1925 ist auch auf diesem Friedhof unübersehbar. 
Auf dem jüdischen Friedhof von Tanger